Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde der Chinesischen Künste,
wie in jedem Jahr möchte ich euch zum Geburtstag unseres verehrten Meisters zusammen mit meinen Glückwünschen einen Gedanken mitschicken, der typisch für ihn ist.
Prof. Zhang Guangde feiert heute seinen 79. Geburtstag – wir freuen uns schon auf den März 2010, wenn wir seinen 80. begehen dürfen. Vermutlich werden wir mit einer Gruppe Schüler nach Peking reisen, um dort mit ihm zu trainieren und zu essen. Ratet mal, auf welchen Teil ich mich mehr freue… J
Während des ersten Wochenendes, das ich bei Prof. Zhang besuchte, ereignete sich eine denkwürdige Szene, die mir heute beim Üben wieder ins Gedächtnis gekommen ist:
Ein Teilnehmer, am Duktus erkennbar offensichtlich effizientes Arbeiten gewohnt, fragt den Professor, wie lange er (der Teilnehmer) diese Form üben müsse, um sie zu beherrschen. Daraufhin Zhang: „99 Tage.“ Der Teilnehmer: „Das trifft sich gut - im nächsten Vierteljahr habe ich etwas Zeit.“
Der Satz ging im Seminar unter, doch ich sah ein freundliches Lächeln über das Gesicht des Professors huschen, als ihm die Antwort übersetzt wurde.
In der chinesischen Zahlensystematik ist die 3 eine Art perfekte Zahl, denn sie symbolisiert die Triade aus Himmel, Erde und Mensch (tian-di-ren), also die universelle Kraft der Schöpfung im Menschen, aufgespannt zwischen den beiden Polen Himmel (Yang) und Erde (Yin). Multipliziert man die 3 mit sich selbst, erhält man die perfekteste aller Zahlen, die 9, die höchste Zahl des Zehnersystems. Diese Logik finden wir zum Beispiel im Himmelstempel in Peking, wo die Ringe aus Marmorplatten um den Opferaltar herum immer eine Potenz der 9 sind. Entsprechend ist die 99 eine fast schon undenkbar perfekte Zahl, die mithin die Unendlichkeit symbolisiert.
Als Prof. Zhang sagte, dass man die Form nach 99 Tagen beherrscht, sprach er also nicht von einem guten Vierteljahr, sondern von der Ewigkeit. Und von der Hingabe des Übens, die sich in der Erkenntnis der Unvollkommenheit trotzdem dem Üben widmet. Aus diesem Vorbild heraus gibt es für uns „Schüler des Wegs“ nichts Wichtigeres, als das tägliche Üben. Und in diesem Üben ist jeder Tag ein neuer Tag, den ich wieder demütig beginne in dem Bewusstsein, dass Perfektion unerreichbar, aber erstrebenswert ist. Denn alles was zählt ist das Tun in diesem Moment.
In diesem Sinne wünsche ich euch an diesem „Vorabend des 80. Geburtstages“, dass ihr euch jeden Tag die Freiheit nehmt, euch vervollkommnend der Unvollkommenheit zu widmen.
Frohes Üben und
Zhu Ni Cheng Gong!